
Zum Buch:
Es wurde am 06.11.2023 vom Lauinger Verlag veröffentlicht. Insgesamt wurde daran drei Jahre lang geschrieben und wartete weitere vier Jahre auf dessen Veröffentlichtung. Inspiriert wurde das Buch durch Fantasy Wallpaper, welche die Autorin im Internet fand. Es ist ca. 400 Seiten stark und im Bereich Fantasy angesiedelt. Durch die teils sehr detaillierten Kampfszenen, ist es ab Jugendalter zu empfehlen.
Hier ist es erhältlich (auch bald als E-book):
Klappentext:
Selenes Nomadenclan wird entdeckt und angegriffen. Um der Sklaverei zu entkommen, flieht sie durch ein Tor und landet in einer Welt voller fremder Kulturen, Monster und Magie. Ihre Identität verbergend, erfährt sie im Traum vom Schicksal ihrer Familie. Mit dem mörderischen Schatten im Nacken und ihren wankenden Gefühlen gegenüber ihren Gefährten kämpfend, begibt sich Selene auf die Suche nach dem Pfad in ihre Welt. Sie darf nicht zu spät kommen. Das Leben ihrer Familie steht auf dem Spiel.
Leseprobe
Kapitel 1
Der würzige Duft von Fleischbrühe waberte durch das traditionelle Zelt, das als Jurte bezeichnet wurde, und kitzelte Selene angenehm in der Nase. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, doch statt zur Quelle des Geruchs zu gehen, warf sie ihrer Mutter Ilteri nur einen schnellen Blick zu, während sie weiterhin mit flinken Fingern die hauchdünnen Holzstreifen zu einem Korb flocht. Ilteri strich sich gerade eine weiße Strähne hinter ihr Ohr, die sich aus ihrem Knoten im Nacken gelöst hatte, und streute mit der anderen Hand Kräuter in den Topf zu ihren Füßen. Dabei schimmerten ihre silbernen Tattoos, die sich wie Blumenranken über ihre rechte Gesichtshälfte und den Hals hinunterzogen, im Schein des Feuers. Kurz hielt Selene inne, dehnte ihren verkrampften Nacken und seufzte, ehe sie ihre Arbeit fortsetzte. Sie hasste es, Körbe zu flechten. Vor allem, wenn sie dabei allein war. Normalerweise konnte sie sich nebenbei mit ihrem Bruder unterhalten, doch dieser war gerade nicht da. »Oh man«, raunte Selene genervt, als sie sich zum gefühlt einhundertsten Mal an den scharfen Kanten der Streifen schnitt.
»Du brauchst dich gar nicht zu beschweren. Immerhin war es deine Schuld«, sagte ihre Mutter streng.
Ihre Mundwinkel zogen sich herunter und sie sah mürrisch auf ihre Finger herab, die sich von allein bewegten. Innerlich fluchte sie, doch sie setzte ihre Arbeit fort und griff nach einem neuen Holzstreifen vom Stapel neben ihr. Es war tatsächlich ihre Schuld gewesen, dass drei Körbe kaputtgegangen waren. Während sie neben dem Wagen hergelaufen war, hatte sie mit ihrem Dolch trainiert, dabei das Gleichgewicht verloren und war gegen ihn geflogen. Daraufhin waren die Körbe heruntergefallen und von den Langhaarkühen zertrampelt worden. Nichtsdestotrotz murrte sie in sich hinein und fuhr fort, den Korb fertig zu flechten. Gelangweilt sah sie immer wieder auf und ließ ihren Blick durch die kreisrunde Jurte streifen. Sowohl der Boden als auch die Wände waren mit farbenfrohen, dicken Teppichen ausgelegt, die aus kantigen Runen und komplizierten, feinen Mustern gewebt waren, und die Kälte, so gut es ging, draußen hielten. Hölzerne Kommoden und Truhen, bemalt mit bunten Farben und ineinanderlaufenden Symbolen, reihten sich an den runden Wänden und wurden nur durch den schmalen, niedrigen Eingang und den Schlafplatz abgelöst. Dieser bestand aus einer beindicken Matratze aus Leder, gefüllt mit Kräutern und Heu. Als Decke fungierten mehrere Lagen aus Fellen und schlichten, dünnen Tüchern. Den Blick auf den Schlafplatz gerichtet, seufzte sie innerlich. Selene war es inzwischen leid, zwischen ihrer schnarchenden Mutter und ihrem unruhig schlafenden Bruder zu liegen. Nur wenn sie jemanden heiraten würde, konnte sie der Jurte ihrer Familie entfliehen. Unglücklicherweise gab es bisher nur einen, den sie interessant gefunden hatte. Er hatte sich mit einer Frau aus einem anderen Clan vermählt und den ihren verlassen. An ihn zu denken, stimmte sie noch immer traurig, obwohl das nun schon mehrere Jahre her war. Selene wusste, dass selbst ihre Mutter sich um sie sorgte, da sie seitdem keinen Mann mehr als heiratswürdig empfunden hatte. Immerhin war sie bereits dreiundzwanzig Jahre alt und noch immer ohne Ehepartner, obwohl sie mit sechzehn schon als erwachsene und damit heiratsfähige Frau galt. In ihrem Clan gab es auch niemanden, der sich für Selene interessierte. Weder war sie eine talentierte Tänzerin noch begabt in Gesang oder Musizieren. Es gab nichts, was sie besonders gut konnte oder sie aus der Masse der Frauen herausstechen ließ. Es war ihr bewusst, dass sie normal und damit langweilig war. Obwohl sie dazu stand, nagte es tief in ihrem Herzen. Selene schüttelte leicht den Kopf und seufzte. Sie hoffte stets jemand Neues kennenzulernen, wenn sie einen der zahlreichen Clans trafen, doch das letzte Treffen lag schon Jahre zurück und nur der Mond wusste, wann sich ihre Wege wieder kreuzen würden. Zudem wusste sie nicht mal genau, wie viele Clans es außer dem ihren noch gab. Denn wurde einer zu groß, teilte er sich, um nicht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen, und die Dorfälteste sprach nur sehr selten von den anderen. Bei dem Gedanken rutschte Selene unruhig auf ihrem Fellkissen hin und her und versuchte, sich wieder auf den Korb zu konzentrieren, der nun schon halb fertiggestellt war. In der Vergangenheit waren viel von ihnen durch Menschen ausgelöscht worden, obwohl es für sie schwierig war, die Anwesenheit der Mondmenschen zu bemerken. Durch das Nomadenleben war es schwer vorherzusagen, wann wo welcher Clan war und wann sie wieder weiterziehen würden. Manchmal blieben sie nur wenige Tage, dann wiederum Wochen und Monate, je nachdem, was die Dorfälteste beschloss. Wenn ein Clan dennoch entdeckt wurde, endete das in Tod und Sklaverei. Bisher hatten ihrer und die, in denen ihre Schwestern lebten, Glück gehabt; ihr Leben war lange ruhig geblieben.
Selene strich sich mit unruhigem Herzen über ihr schneeweißes Haar und wischte die störrischen Härchen zurück auf ihren Kopf. Sie hoffte stets darauf, dass der Mond ihnen beiseite stand und die Dorfälteste sie rechtzeitig beschützen würde. Ihre Mutter richtete sich mit einem Ächzen auf und unterbrach Selenes düstere Gedanken.
»Das Essen ist fertig. Hole bitte Sulis und sage auch Großmutter Annit Bescheid. Vielleicht mag sie mit uns essen«, sprach ihre Mutter und Selene legte erleichtert den halb fertigen Korb beiseite.
Endlich konnte sie, wenn auch nur für einen kurzen Moment, ihre Arbeit unterbrechen und frische Luft schnappen.
»Wo ist denn Sulis?«, fragte Selene mit einer Vorahnung.
Ihr kleiner Bruder hatte schon immer den Drang gehabt, dem Dorf zu entfliehen.
»Er ist mit seinen Freunden am großen See eisfischen«, antwortete ihre Mutter ohne aufzusehen und rührte weiterhin in der Suppe.
Selene seufzte innerlich, denn zum See ging sie nicht gerne und allein der Gedanke daran ließ ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunterkriechen. Am Rande des Sees befand sich eine riesige Statue, die etwas tief in ihr erschaudern ließ. Da würde sie lieber weiter an dem Korb arbeiten, als hinunter zum See gehen, doch ihre Mutter war streng und würde nur wütend werden, wenn sie sich weigern würde. Innerlich fröstelnd strich sie sich ihr ledernes, knielanges Kleid glatt und zog ihre darunterliegende Lederhose etwas hoch, ehe sie in die warmen, braunen Pelzstiefel schlüpfte, die beim Eingang standen. Dann zog sie über ihre Kleidung einen dicken, roten Mantel aus Filz, der an den Säumen mit kleinen Runen verziert war und verschloss ihn mit festgenähten Bändern bis zu ihrem Kinn. Sie überlegte kurz, ob sie noch ihre Handschuhe und einen Schal mitnehmen sollte, doch der Weg war nicht weit und die Sonnenstrahlen würden angenehm warm sein. Stattdessen griff sie zu ihrem gefütterten braunen Pelzmantel, der ihr bis zu den Schienbeinen reichte und schlüpft rasch hinein. Ihre schneeweißen Haare, die im Nacken zu einem Zopf geflochten waren, zog sie unter dem Mantel hervor und ließ ihn seitlich am Hals herunterfallen.
»Bis gleich«, verabschiedete sie sich von ihrer Mutter, die ihr geschwind zulächelte, ehe Selene die Verschlüsse an der Tür öffnete.
Schnell schob sie das Leder beiseite und trat mit einem großen Schritt nach draußen. Eisige Kälte schlug ihr entgegen und sie musste Acht geben, auf dem festgetretenen Schnee vor der Tür nicht auszurutschen. Sie verschloss sofort wieder den Eingang mit den ledernen Bändern, ehe sie sich aufrichtete und ihr Gesicht zum Himmel wandte. Keine Wolken waren weit und breit zu sehen und die gleißende Sonne stand hoch am blauen Himmelszelt. Genüsslich ließ sie sich ihre fast weiße Haut wärmen, ehe der schneidende Wind sie dazu zwang ihre Fellkapuze aufzusetzen und ihres Weges zu gehen. Sie richtete ihren Schritt in das Innere des Dorfes, in der das Haus ihrer Großmutter, der Dorfältesten, lag. Unterwegs kam sie an zahlreichen anderen Jurten vorbei und grüßte alle, die ihr begegneten, darauf bedacht sich zu keiner Konversation verleiten zu lassen. Ihr Hunger machte sich langsam bemerkbar und sie wollte schnell wieder nach Hause. So ging sie zielstrebig auf den Wegen zwischen den Jurten entlang, ehe sie direkt auf eine große Rote mit überdimensionalen Runen und farbigen Ornamenten zusteuerte. Vor der reich verzierten Tür hielt sie kurz inne und atmete die frische Luft tief ein.
»Der kalte Wind vor der Tür«, sprach sie laut und bat damit respektvoll um Einlass. »Und das wärmende Feuer im Haus«, kam die einladende Antwort rasch und Selene öffnete den Eingang und trat ein.
Wärme und ein schwerer, süßlicher Duft schlugen ihr entgegen und schnell verschloss sie hinter sich die Tür. Langsam richtete sie sich auf und ihr Blick schweifte für einen kurzen Moment durch den Innenbereich. Sie war größer, geräumiger und auch schöner als alle anderen. Mehrere kunstvoll geschnitzte und bemalte Truhen und Schränke reihten sich aneinander. Prächtige Wandteppiche, gewoben in vielen fröhlichen Farben, bedeckten die Wände und der Boden war mit braunen Pelzen ausgelegt. Die Feuerstelle im Zentrum war beinahe doppelt so groß wie in jeder anderen Jurte und die grauen Steine, welche sie einfassten, waren meisterhaft mit feinen Ornamenten behauen. Um die steinerne Feuerstelle herum lagen dicke Teppiche, die aus farbigen Lederstreifen gewoben waren und komplizierte Muster bildeten. Darauf standen Trockengestelle für allerlei Gewürze und Pflanzen und zwischen ihnen entdeckte Selene ihre Großmutter. Respektvoll zog Selene ihre Schuhe neben dem Eingang aus und weil die Wärme in der Jurte sie schon zum Schwitzen brachte, platzierte sie ihre beiden Mäntel daneben. Als sie langsam nähertrat, richtete sich ihre Großmutter auf und Selene legte die Fingerspitzen ihrer rechten Hand an ihre Stirn, führte sie dann vom Körper weg und verbeugte sich leicht mit den Worten: »Der Mond hell in der Nacht.«
Ihre Großmutter lächelte sie mit weißen Zähnen an, wobei sich ihre Falten tiefer in ihr Gesicht gruben und die silbernen, runenartigen Tattoos, die sich vollständig darüber zogen, zum Schimmern brachten. Sie vollzog dieselbe grüßende Handbewegung wie zuvor Selene, ehe sie erwiderte: »Der Mond hell am Tag.«
Dann richtete sich Annit langsam auf, wobei ihre ledernen, kostbar bestickten Kleider um ihren schlanken Körper raschelten und die vielen bunten Armreifen und Halsketten bei jeder ihrer Bewegungen leise klimperten. Neben ihrer Großmutter fühlte sich Selene stets unscheinbar, denn sie besaß kaum Schmuck, den sie auch so gut wie nie trug. Es gab schließlich niemandem in ihrem Clan, für den sie sich hübsch machen konnte.
»Mutter fragt, ob du mit uns zu Mittag essen möchtest«, sprach Selene, während sie an die Seite ihrer Großmutter trat und dann sehen konnte, worüber sie sich gerade gebeugt hatte.
Auf einem breiten Trockengitter aus Weidenruten lagen mehrere zierliche Pflanzen mit großen, schneeweißen Blüten und silbrigen Blättern.
»Mondblumen«, hauchte sie überrascht und sank ehrfürchtig auf ihre Knie, während ihre Großmutter leise kicherte.
Sachte streichelte Selene die samtenen Blätter, die allmählich schon zu trocknen begannen und sich fragil unter ihren Fingerkuppen anfühlten.
»Ich dachte, sie wachsen nicht in der Gegend«, meinte sie und sah Annit fragend an, die ihre schneeweißen Haare geschickt mit einem geflochtenen Band im Nacken zusammenband.
»Der Mond ist gnädig zu seinen Töchtern. Erst vor wenigen Tagen baten mich mehrere Frauen um neue Mondsamen, denn ihre waren verdorben. Jäger fanden sie, als sie im Wald nach Wild suchten. Deine sind noch gut, oder?«, fragte Annit plötzlich und sah sie aus silbergrauen Augen fragend an, während Selene ihren Kopf leicht schräg legte und kurz nachdachte.
»Ich denke schon«, antwortete sie.
Aber unter dem abschätzenden Blick ihrer Großmutter sah sie zur Sicherheit lieber noch einmal nach. Sie stand auf, griff durch den Ausschnitt ihres Lederkleides zum Brustkorsett und zog zwischen ihren Brüsten ein ledernes Beutelchen hervor. Dann öffnete sie den Verschluss und kippte den Inhalt in ihre Handfläche. Heraus kullerten kleine Kügelchen, die im Schein des Feuers hellsilbern schimmerten.
»Sie sehen noch gut aus«, meinte Selene.
Ihre Großmutter beugte sich über die Samen und runzelte leicht die Stirn.
»Wohl wahr, aber ich gebe dir lieber frische«, meinte sie und Selene ließ die kleinen Kugeln zurückrollen, ehe sie ihr den Beutel gab.
»Sobald die getrocknet sind, gebe ich ihn dir zurück«, versprach Annit und verstaute Selenes Beutel in einer ihrer zahlreichen Kleidertaschen.
»In Ordnung. Aber isst du jetzt mit uns oder nicht? Ich muss nämlich noch Sulis holen«, fragte sie leicht drängelnd.
»Richte deiner Mutter aus, dass ich nachkommen werde. Zuerst werde ich noch die Mondblumen trocknen.«
»In Ordnung«, sprach sie und lief zum Eingang, doch dann hielt sie inne und drehte sich zu ihrer Großmutter um.
»Wann werden wir eigentlich einem der anderen Clans wieder begegnen?«, fragte Selene neugierig und leicht verwundert sah Annit auf.
»Der Mond wird bald in seiner ganzen Pracht stehen und dann werde ich es wissen. Doch weswegen fragst du?«, hakte sie nach und Selene stockte kurz, ehe ihr eine Antwort einfiel, die nicht gänzlich gelogen war.
»Es ist lange her, dass ich meine Schwestern gesehen habe, und ich würde gerne mal meine Nichten treffen. Wie ich hörte, sollen sie jetzt schon wahre Schönheiten sein«, antwortete sie und ihre Großmutter kniff leicht ihre grauen Augen zusammen.
Einen kurzen Moment schwieg sie, während sie ihre Enkelin eindringlich musterte. Sie wusste, dass Selene nicht die beste Beziehung zu ihren Schwestern hatte.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Noch bist du jung. Irgendwann wird ein Mann dich lieben, so wie du bist und deine Talente zu schätzen wissen«, sprach Annit sanft und Selene sah leicht ertappt auf den Boden.
»Ich habe keine Talente«, entgegnete Selene leise.
»Du kannst gut mit den Dolchen umgehen.«
»Frauen dürfen aber nicht jagen. Deswegen ist das wertlos«, unterbrach Selene sie und Annit seufzte leise.
»Du bist zudem gut darin, Dinge schnell zu lernen. Eines Tages wirst du Gebrauch davonmachen können«, sprach sie mit einem sanften Lächeln.
»Ich mag zwar schnell lernen, aber richtig kann ich es danach auch nicht«, entgegnete Selene und zog dann wieder ihre Sachen an, bereit zu gehen.
Sie konnte den Blick ihrer Großmutter auf sich spüren, wagte es jedoch nicht aufzusehen. Zu offensichtlich war ihr die Verbitterung anzusehen und sie wollte nicht, dass es jemand bemerkte. Nicht einmal ihre Großmutter sollte mitbekommen, wie sehr sie das schmerzte. Manchmal fragte sie sich, ob etwas mit ihr nicht stimmte. Sie wollte nur jemanden, der sie liebte. War das wirklich zu viel verlangt?
»Der Mond hell in der Nacht«, sprach Selene rasch und vollführte die gleiche Geste wie bei der Begrüßung.
»Der Mond hell am Tag«, erwiderte Annit zur Verabschiedung, aber ehe sie zu Ende gesprochen hatte, hatte Selene bereits den Eingang geöffnet und war hindurchgetreten.
Frische Luft schlug ihr entgegen und ließ sie etwas freier atmen. Dann verschloss sie die Tür wieder und richtete ihre Schritte nach Norden zum großen See, der zu dieser Jahreszeit zugefroren war. Der kalte Wind pfiff ihr um die Ohren und ließ sie ihre Kapuze aufsetzen, während sie langsam das Dorf verließ und der Schnee immer tiefer wurde. Sie sank bis fast zu den Knien ein, wobei ihre Gedanken noch in der Jurte ihrer Großmutter waren, und Bitterkeit kroch in ihr hoch. In den Worten ihrer Großmutter Annit hatte sie keinen Trost finden können. Frustriert stapfte sie weiter durch den Schnee und sah leicht grimmig nach vorne. Sie richtete ihren Schritt immer am Waldrand entlang, an dem sich ihr Dorf befand und überquerte den langgezogenen Hügel, bis sie die Hügelkuppe erreichte und sich der See weitläufig unter ihr erstreckte. Das Ufer verschwand zu beiden Seiten in einem Wald und am Horizont ließ sich der Rand des Sees kaum erahnen. Sie ließ ihren Blick schweifen und entdeckte mehrere Körbe am Ufer.
»Sie sind vermutlich mit Eisfischen schon fertig und spielen noch eine Runde. Doch wo könnten sie sein?«, murmelte Selene zu sich selbst und sah sich um, während sie den Hügel hinunterstieg.
Ihr Blick glitt weiter Richtung Osten. Der Wald wich zurück und sie blieb mit einem Mal stehen. Eine kalte Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter, als Selene die riesige, steinerne Statue erblickte. Sie befand sich auf offenem Gelände, zwischen Wald und See, war mehrere Körperlängen hoch und von solch unheimlicher Schönheit, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Schon oft hatte sie die Statue begutachtet, hatte es jedoch nie gewagt, näher an sie heranzutreten. Als würde sie etwas tief in ihrem Inneren davon abhalten. Selbst die Vögel sangen nicht in ihrer Nähe und die Tiere liefen einen großen Bogen um sie herum. Die Statue ähnelte der Figur eines Mannes, und doch war er zu unheimlich, als dass er menschlich sein könnte. Lange Haare zierten sein Haupt, die ihm bis zum Rücken hinunterfielen. Das schöne, schlanke, dennoch markant männliche Gesicht glich einer Maske. Es war ohne Mimik und die Augen waren leere, dunkle Höhlen. Über das Gesicht zogen sich schwarze, kantige Ranken und die vollen Lippen waren ernst geschlossen. Er trug einen schlichten, bodenlangen Mantel, der vorne geöffnet war und auf Brusthöhe ragten betende Hände heraus. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen, denn man konnte keine Verbindung zwischen ihnen und der Statue erkennen. Einen Körper gab es nicht. Der Blick auf die Innenseite war frei. Die Innenseite des Mantels zeigte ein Bild von schneebedeckten Bäumen mit einem weißen Berg weit im Hintergrund. Selene hatte das Bild schon oft beobachtet und sie könnte zum Mond schwören, dass sich die Baumwipfel ab und an bewegten, als würden sie sich im Wind wiegen. Selenes Blick glitt zum großen Spitzbogen in der Mitte der Innenseite des Mantels. Dieser war dreimal so hoch wie ein Mensch und so breit wie zwei Schulter an Schulter stehende Menschen. Doch was sie am meisten beunruhigte, war das schwarze Loch dahinter. Wie schon die Augen der Statue befand sich hinter dem Bogen erdrückende Leere und Dunkelheit. Sie konnte keine Reflexion darin ausmachen und sie wusste aus Erzählungen, dass Steine darin verschwanden, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Es löste in ihr einen Fluchtreflex aus. Unbewusst hatte sie ihre Schritte bereits Richtung Westen, weg von der Statue, gedreht, wobei sie deren tote Blicke in ihrem Rücken spüren konnte. Sie hatte viele Geschichten über sie gehört und manche behaupteten, dass es sie schon gab, als die erste Mondtochter noch nicht einmal geboren war. Selene schüttelte sich kurz und zwang sich, nicht mehr an die gruseligen Geschichten, die sich um die Statue rankten, zu denken, als mit einem Mal Kindergelächter zu ihr herüberschallte. Sie beschleunigte ihren Schritt, eilte zum Seeufer und sah an einer Ansammlung von schneebedeckten Bäumen vorbei. Weit von ihr entfernt spielten drei kleine Jungen im Schnee und unter ihnen erkannte sie ihren jüngeren Bruder wieder, der mit seinen kurzen schwarzen Haaren unter den beiden Blonden hervorstach.
»Sulis!«, rief Selene laut und winkte, als sich die drei zu ihr umdrehten.
Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie zusah, wie er ihr freudestrahlend entgegenrannte. Sie verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und wartete leicht lächelnd am Waldesrand. Während sie heraneilten, merkte sie, wie die Vögel im Wald verstummten und sich darin eine gespenstische Stille ausbreitete. Verwundert sah sie in die Tiefen des Waldes, als sie einen schnellen Schatten darin erkannte. Unruhe befiel sie und ihr Blick glitt wieder zu den drei Jungen, die immer näher kamen. Langsam ließ sie ihre Arme sinken und ihr Unbehagen wurde immer stärker. Etwas stimmte nicht. Plötzlich brachen aus dem Wald, nicht weit hinter den Jungen, vier schwarze Pferde hervor. Die nachtschwarzen Rüstungen der Reiter schimmerten im Licht der Sonne dunkel, während sie im gestreckten Galopp und mit wildem Geschrei den Jungen hinterher galoppierten. Ihr Innerstes gefror und ein Zittern befiel sie. Man hatte sie gefunden. Furcht umklammerte ihr Herz und eine eiskalte Welle strömte durch ihren Körper, als sie sah, wie die vier Reiter ihre langen Schwerter zogen und die drei Jungen langsam aber sicher einholten.
»LAUFT!«, schrie Selene mit jeder Faser ihres Wesens, und wusste dabei, dass es vergebens war.
Mit blankem Horror sah sie, wie sich ihr Bruder im Laufen nach hinten umdrehte, als der vorderste Reiter ihn einholte. Die Zeit schien still zu stehen, als die Klinke hinunterfuhr und rotes Blut auf den weißen Schnee spritzte. Ihr Bruder strauchelte, warf seine Arme zur Seite und sackte dann in sich zusammen, während die Hufe des Pferdes ihn im Schnee begruben.
»SULIS!«, rief Selene aus voller Kehle, heiße Tränen brannten in ihren Augen.
Erneut sausten die Klingen herunter und begruben auch die beiden anderen Jungen im roten Schnee. Kälte schlug ihr wie eine Wand entgegen und sie taumelte ein paar Schritte nach hinten, während der Schmerz ihr Herz fast zum Bersten brachte. Taubheit legte sich auf ihre Ohren und ein Zittern befiel sie, als sie erkannte, dass sie die Nächste sein würde. Da erwachte sie aus ihrer Starre, drehte sich auf dem Absatz um und sprintete in Richtung ihres Dorfes. Tränen strömten über ihre Wangen, während ihr die eisige Luft in der Lunge stach und kalter Schweiß ihren Rücken hinunterlief. Nichtsdestotrotz verlangsamte sie ihr Tempo nicht. Sie rannte so schnell, wie sie noch nie gerannt war, als ein säuselndes Geräusch hinter ihr ertönte, das rasch lauter wurde. Gerade, als sie sich umsehen wollte, riss sie etwas hart von den Füßen. Sie stürzte zu Boden und rollte den Hügel hinunter, ehe sie atemlos liegen blieb. Leicht schwindelig versuchte sie, sich aufzurichten, und erkannte dabei, dass sie in einem Netz gefangen war. Panisch sah sie zu den Reitern, die ein Stück an ihr vorbeigeritten waren und nun ihre Pferde zügelten, damit sie wenden konnten. Schnell griff sie in ihren Stiefel und zog daraus einen verborgenen Dolch. Mit all ihrer Kraft zerschnitt sie das Netz und war wenige Augenblicke später wieder frei. Sie rappelte sich auf und sah voller Grauen, wie die Reiter erneut auf sie zu preschten. Wie angewurzelt stand sie kurz da, drehte sich um und wollte zum See rennen, als ein blendender Schmerz in ihrer Seite sie abermals zu Fall brachte. Fluchend drückte sie sich wieder hoch und sah an ihre Seite, aus der ein Pfeil herausragte. Ohne zu zögern packte sie zu und riss ihn, während sie weiter rannte, aus ihrem Körper. Sie wollte so schnell wie möglich zurück zu ihrem Dorf, aber einer der Reiter versperrte ihr den Weg. Kurzentschlossen wandte sie sich nach Osten, in der Hoffnung, durch den Wald zurück zu gelangen. Sie hörte die dumpfen Hufschläge der Pferde hinter sich und Verzweiflung schnürte ihr die Lunge zu, während die Reiter immer näherkamen. Ruckartig verlor sie abermals den Kontakt zum Boden, schien einen Moment lang in der Luft zu schweben, nur um umso härter aufzuschlagen. Sie überschlug sich mehrere Male, ehe sie zum Stillstand kam. Keuchend rollte sie sich auf die Seite, hob ihren Blick und alle Hoffnung sank, als sie die vier Gerüsteten erblickte, die keinen Steinwurf weit von ihr entfernt standen. Mit einem Aufschrei rappelte sie sich auf und sah mit angstgeweiteten Augen zu den Reitern, die zu ihrer Überraschung stehen geblieben waren. Verwundert sah sie zu, wie die Pferde scheuten und keinen Schritt weitergingen, egal wie sehr die Reiter mit den Zügeln auf sie einschlugen. Plötzlich kroch ihr eine eiskalte Gänsehaut den Rücken hinunter und ihre Nackenhaare stellten sich zitternd auf. Sie sah langsam über ihre Schulter und erstarrte. Über ihr schwebten die betenden Hände der Statue und die leeren Augen schienen sich in ihr Wesen zu bohren. Ihr Innerstes erbebte vor Furcht. Ihr Blick glitt in Richtung ihres Dorfes und als sich der Wind drehte, hörte sie verzweifelte Schreie und den Geruch von Feuer. Der Himmel über ihrem Dorf hatte sich rot verfärbt und ihr wurde schlagartig klar, dass sie nicht mehr zurückkehren konnte. Selbst wenn sie es, wie durch ein Wunder, zu ihrer Jurte schaffte, konnte es bereits zu spät sein. Ihre Gedanken glitten zu den Mondsamen, die bei Annit lagen. Sie hätten ihr ein schnelles Ende gewährt. Viele Frauen wählten lieber den Tod, als in Sklaverei zu enden, und Selene war sich sicher, dass ihre Mutter und Großmutter ebenso empfanden. Sie war auf sich allein gestellt. So sehr sie auch zu ihrer Familie wollte, sie konnte den Männern nicht entfliehen. Ihre Hand wanderte an die Stelle, an der sich normalerweise ihre Mondsamen befanden. Dann sah sie zu den vier Reitern, die mit blutbesudelten Schwertern vorsichtig nähertraten, stets einen beunruhigten Blick zur Statue werfend. Langsam drehte sie sich zur Seite und sah in den leeren Abgrund hinter dem Spitzbogen. Dann glitt ihr Blick zu den vier Gerüsteten und eine Entschlossenheit wuchs in ihr, die sie bis dahin noch nie gespürt hatte. Sie warf einen letzten Blick in die Richtung ihres Dorfes und betete für ihre Familie, ehe sie sich mit tränenüberströmten Wangen abwandte und sich in die Leere stürzte.