Kapitel 40
Dumpf dröhnte ihr der Kopf, als sie allmählich aus der gnädigen Dunkelheit glitt. Langsam öffnete sie ihre schmerzenden Augen, konnte jedoch nichts erkennen. Benommen blinzelte sie, sah jedoch immer noch nichts und auf ihre Ohren drückte eine Stille, die nur das Rauschen ihres Blutes durchbrach.
´Wieso höre und sehe ich nichts? Um mich herum tobt eine Schlacht, ich müsste doch irgendetwas hören! Oder liege ich etwa in einem Koma? Oder bin ich etwa tot?´
Verwirrt blinzelte sie noch einmal, doch die Sicht klärte sich kaum. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch ihr Körper war schwer wie Blei. Panik stieg langsam in ihr hoch und nur mit größter Kraftanstrengung konnte sie ihren Kopf zur Seite drehen. Schmerzen explodierten in ihrem Kopf, die ihr schlecht werden ließen und mit einem Stöhnen richtete sie ihren Kopf wieder gerade. Schwindel erfasste sie und erst nachdem sie ihre Panik beruhigt hatte, legte sich auch dieser.
´Wenigstens bin ich nicht tot… ich glaube nämlich kaum, dass man Schmerzen im Jenseits hat… oder vielleicht bin ich ja bei den Valar und da ist es ganz anders? Nee… kann eigentlich auch nicht sein. Anscheinend bin ich auch nicht in den Häusern der Heilung, sonst hätte mich jemand gehört und wäre herein gekommen, um nach mir zu sehen… so ein Mist! Wo verdammt noch mal bin ich dann?´
Erneut drehte sie ihren Kopf und auch dieses Mal explodierten die Schmerzen in ihrem Kopf. Sie biss jedoch kräftig ihre Zähne zusammen und wartete, bis diese nachließen und der Schwindel sich legte. Langsam öffnete sie ihre Augen, die sie zuvor vor Schmerzen geschlossen hatte, allerdings war es zu dunkel, um etwas zu erkennen.
´Das gibts doch nicht, dass ich nichts sehen kann! Was mach ich denn jetzt? Ok, nur die Ruhe bewahren, Gweneth! Es kann doch sein, dass es hier so dunkel ist, dass deine Augen sich erst noch an daran gewöhnen müssen… naja, dann bleib ich am besten einfach liegen und warte ab. Kann ja eh grad nix anderes machen.´
Sie atmete tief ein und merkte erst jetzt, dass die Luft stickig und voller Staub war. Abwartend blieb sie liegen und wunderte sich im Stillen, wo sie nur war. Schließlich gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, doch sie konnte nur undeutliche Schemen erkennen. In der Zwischenzeit wuchs ihre Neugierde immer weiter an und sie fing an, den Untergrund langsam mit ihren Fingerspitzen abzutasten. Sie lag auf einem harten, wenn auch nicht so kaltem Boden und er schien sehr staubig zu sein. Es verwunderte sie jedoch etwas, keine Gesteinsbrocken zu ertasten, die bestimmt in ihrer Umgebung liegen mussten, wenn sie sich noch in Minas Tirith befand. Ihr Verdacht wurde deswegen immer größer, dass sie nicht mehr auf den Straßen der weißen Stadt war. Als sie ihre beiden Arme zur Seite ausstrecken wollte, um noch weiter zu tasten, durchzuckte ihren linken Arm ein greller Schmerz, der sie aufstöhnen ließ. Ganz langsam atmete sie durch, bis der Schmerz langsam abklang und war gezwungen, nur den rechten Arm auf Erkundungstour zu schicken. Vorsichtig tastete sie den Boden ab und meinte feine Rillen zu ertasten.
`Ist das etwa ein Holzboden? Fühlt sich zumindest so an.´
Sie übte etwas Druck aus und hörte, wie er leicht knarzte. Auch spürte sie an manchen Stellen die Maserungen des Holzes, die rau in ihre Fingerkuppen piksten. Sie streckte immer weiter ihren Arm aus, bis sie auf etwas Seltsames stieß. Es war kühl und glatt und als sie ihre Hand darum schloss, erkannte sie, dass es eine Art Fuß sein musste. Verwundert hob sie mit großer Kraftanstrengung ihren Arm und tastete am Fuß hoch, bis sie auf etwas Samtenes stieß. Noch verwirrter strich sie über den himmlisch weichen Stoff und als sie ihre Augen etwas zusammenkniff, lichtete sich die Dunkelheit etwas. Ihr Blick folgte ihrem Arm, bis zu ihrer Hand, die auf dem Lampenschirm einer Bodenlampe lag. Nicht einen Kerzenhalter, wie sie ihn oft gesehen hatte, sondern eine echte, wirkliche Lampe des 21. Jahrhundert. Verdutzt starrte sie ihn an und ließ dann kraftlos ihre Hand sinken, als mit aller Wucht die Erkenntnis in ihr Bewusstsein drang.
„Ich bin zu Hause“, flüsterte sie und lächelte erleichtert.
´Ich bin nicht tot oder zermalmt, querschnittsgelähmt oder etwas in der Art… ich habe es nur irgendwie geschafft, nach Hause zu kommen…. Vielleicht… hat mich der Ring erneut vor meinem Tod bewahrt, in dem er mich zurückschickte… hier geschieht mir zumindest nichts… ich bin wirklich zurück.´
Das Lächeln tröpfelte langsam aus ihrem Gesicht.
´Ich bin daheim…´
Bilder von Gandalfs und Pippins erschrockenen Gesichtern erschienen vor ihren inneren Augen.
´Ich bin… daheim.´
Vor ihren geistigen Augen konnte sie noch Gandalfs Fingerspitzen sehen, die sich nach ihr ausgestreckt hatten und wie sie diese verfehlte. Wie sie gefallen, wie ihr Mantel um sie herum geflattert war. Die Gesichter ihrer beiden Freunde, von Angst gezeichnet, das Monster und der schwarze Reiter, der Krieg, die Reiter, Éomer…
´Ich…. bin daheim.´
Ungeachtet der Schmerzen drehte sie sich langsam auf die Seite und rollte sich zusammen. Erneut wallten Erinnerungen hoch. Aragorn, der ihr immer mehr ans Herz gewachsen war und welcher der einzige Mensch war, den sie als ihren König anerkannt hätte. Der wachsame Legolas, der stets ein Lächeln in seinem Gesicht trug. Gimli, wie immer lachend und derbe Sprüche reißend. Éowyn, die ihr solch eine gute Freundin gewesen war. Wie sie beide lachend gebadet und wie sie sich gegenseitig Geschichten erzählt hatten. Éomer… Éomer, der ihr so viel bedeutete. Ihre erste Begegnung, die erste Nacht und die vielen, die darauf folgten. Wie er ihr das goldene Herz schenkte, wie sie ihn zurückließ. Tränen stiegen in ihr empor und als hätte ihr Körper nur darauf gewartet, brach alles aus ihr heraus. Wie Sturzbäche flossen ihre Tränen auf den Holzboden, als die schrecklichen und schönen Erinnerungen an Mittelerde sie zu überschwemmen drohten. All der Schmerz, den sie stets verdrängt hatte, brach mit aller Gewalt aus ihr hervor und sie dachte, ihr Herz würde zerspringen. Viel hatte sie gesehen und viel erlebt. Sie weinte, um alle, die gestorben waren, die noch sterben werden und um die verpasste Möglichkeit, alles selbst zu erleben. Sie würde nie erfahren, wer überlebte und wer nicht. Nie würde sie erfahren, ob sie gewannen oder Mittelerde dem Untergang geweiht war. Sie weinte, schrie ihren Schmerz hinaus. Immer wieder tauchte vor ihrem geistigen Auge Éomers Gesicht auf. Wie er lachte, wie er seine Augenbrauen zusammenzog, wenn ihn etwas sorgte, wie er sie immer aus so liebenden Augen angesehen hatte. Ihre rechte Hand griff an die Stelle ihres Herzens, als sie den Schmerz darin spürte. Sie ballte ihre Hand zu einer Faust und schrie sich die Kehle wund, als ihr Herz in tausend Stücke zerbrach. Jeder einzelne Splitter bohrte sich in ihr Fleisch, bis sie das Gefühl hatte, vor Schmerzen wahnsinnig werden zu müssen. Sie schmiss sich von einer zur anderen Seite, bis sie endgültig zusammenbrach und in eine betäubende Schwärze fiel.
Die Dunkelheit wich, in die sie sich so gerne noch etwas gehüllt hätte. Langsam öffnete sie ihre Augen und bemerkte, dass es hell draußen war, ansonsten merkte sie nichts. Ihre Gedanken waren zum Stillstand gekommen und ihr Herz schmerzte nun nicht mehr, denn sie besaß es nicht mehr. Momentan fühlte sie überhaupt nichts mehr, außer der Leere, die sie komplett auszufüllen schien. Sie fühlte sich wie eine Puppe, aus der alle Emotionen herausgesaugt worden waren. Gweneth sah mit starren Augen zu, wie der Sonnenstrahl, der durch die weißen Vorhänge fiel, allmählich weiter wanderte. Staub tanzte in ihm und kitzelte sie leicht in der Nase, bis der Sonnenstrahl hinterm Horizont verschwand. Sie sah zu, wie der Mond durchs Fenster hinein schien und der Sonne wieder Platz machte. Ganz langsam begannen ihre Gedanken sich zu formen und sie konnte langsam wieder in Sätzen denken. Zwar waren die Gedankengänge noch träge und unvollständig, doch sie wusste irgendwann, dass sie nicht auf dem Boden liegen bleiben konnte. Der Ring hatte sie vor ihrem Tod gerettet, in dem er sie hierher brachte und nicht, dass sie dort verdursten würde. Zögerlich setzte sie sich auf und hielt inne, wenn die Schmerzen zu unerträglich wurden.
´Das kommt davon… wenn man die Nacht durchweint. Ich glaub… ich bin völlig ausgetrocknet… würde zumindest erklären, warum ich so ein pelziges Gefühl auf der Zunge habe.´
Sie lehnte sich gegen die Rückwand ihres Sofas, welches genau neben der Lampe stand und starrte auf ihre schmutzige Hand hinunter. Sie war blutverschmiert, rissig, voller Schwielen und blauer Flecken. Seufzend ließ sie ihre Hand zu Boden gleiten und dachte kurz nach. Sie würde es nicht schaffen aufzustehen, mit all den schweren Sachen an ihrem Körper. Langsam ließ sie ihren Rucksack zu Boden gleiten und schob ihn unachtsam unter das Sofa. Mit fast kraftlosen Fingern und nur einem Arm dauerte es etwas, die Schnallen an ihrer Rüstung zu lösen und sie umständlich abzulegen. Plump fiel alles zu Boden, bis sie nur noch in Hose und Wams dasaß. Inzwischen klebte bereits ihre Zunge unangenehm am Gaumen und der Drang, etwas zu trinken, wuchs in ihr stetig an. Ganz langsam drehte sie sich und gelangte so in eine kniende Position. Erst als sich die Schmerzen und der Schwindel gelegt hatten, wagte sie es, sich ganz langsam aufzurichten. Ihr Kopf dröhnte und sie biss ihre Zähne fest aufeinander, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Endlich stand sie auf ihren beiden Beinen, hielt sich jedoch noch an der Lehne des Sofas fest. Ganz langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und schaffte es, sich an der Wand entlang in die Küche zu hangeln. Keuchend vor Anstrengung drehte sie den Wasserhahn über der Spüle voll auf, doch kein Wasser floss.
´Na toll, die haben die Leitung zugedreht! Verdammt, ich muss in den Keller runter.´
Genervt atmete sie ein und machte sich zum Keller auf. Nur dank vieler Pausen und entlang hangelnd an den Wänden, gelang es ihr, die Treppen hinunter zu stolpern und zum Sicherungskasten zu wanken. Ohne auf etwas großartig zu achten, betätigte sie alle Sicherungen, drehte alle Hähne auf und machte sich auf den Rückweg. Dabei war sie inzwischen so geschwächt, dass sie die Treppe hinaufkriechen musste, um dann auf allen Vieren in die Küche zu gelangen. Dort zog sie sich mühevoll an der Spüle hoch, drehte den Hahn voll auf und nach einem kurzen Rüttler sprudelte das Wasser nur so heraus. Erleichtert seufzend schob sie ihren Kopf unter den Hahn und trank. Sie trank so viel auf einmal, dass es ihr beinahe schlecht wurde, doch das Wasser legte etwas den Schwindel in ihrem Kopf. Langsam drehte sie den Hahn wieder zu und wischte sich den Mund mit ihrem Ärmel ab. Erneut wallten Schmerzen durch ihren Kopf und ließen sie aufzischen.
´Das kann doch nicht so weiter gehen! Ich brauch was dagegen.´
Sie seufzte leicht, denn die Schmerztabletten waren in ihrem Bad, ein Stockwerk obendrüber. Erneut machte sie sich auf den Weg und nach einer gewissen Zeit hatte sie es ins Bad geschafft. Doch lag es im Dunkeln und erst nach einiger Zeit fand sie den Lichtschalter. Helligkeit erstrahlte und ließ sie ihre Augen zusammenkneifen. Erst nach einigen Sekunden konnte sie wieder sehen und sie lief durch das große Bad zum Arzneischrank, der sich direkt neben dem breiten Spiegel befand. Sie zog die Türe auf, schnappte sich den ersten Packen Schmerztabletten und drückte sich vier davon aus der Plastikverpackung. Schnell warf sie diese in ihren Mund und spülte sie mit Wasser aus dem Wasserhahn hinunter. Seufzend richtete sie sich wieder auf und dabei fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Gweneth zuckte unweigerlich zusammen, wich einen Schritt zurück und konnte nicht glauben, dass dies wirklich sie darstellen sollte. Strähnen ihres Haares standen wirr ab und waren an vielen Stellen verfilzt. Es wirkte stumpf und glanzlos. Ihr Haaransatz war komplett rot gefärbt durch ihr getrocknetes Blut und erst jetzt erkannte sie die Wunde an ihrem Kopf, die sich unter den Haaren, oberhalb ihrer Schläfe befand. Unweigerlich hob sie ihre Hand und strich sich über ihr schmutziges Gesicht, welches verschmiert war von getrocknetem Blut. Ihre Augen waren geschwollen und blutunterlaufen. Tiefe Augenringe befanden sich darunter und ihr sonst so gebräuntes Gesicht wirkte wächsern und fahl. Sie strich mit ihren Fingerkuppen über ihre geschwollene Wange, bis hinunter zu ihren aufgerissenen und spröden Lippen. Ganz langsam und wie in Trance schälte sie sich aus ihren restlichen Sachen und nach einer halben Ewigkeit lagen all ihre Sachen am Boden. Ihr Blick glitt an ihr hinunter, über ihre Narben, Schrammen und Blutergüsse, die ihren Körper gänzlich überzogen. Sie besah sich ihren linken Arm, der so sehr schmerzte und ihr fiel auf, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Die Schulter schien herabzuhängen und um sie herum befanden sich große Blutergüsse. Sachte fuhr sie mit den Fingerspitzen darüber, doch selbst das schmerzte. Innerlich hoffte sie, dass nichts gebrochen war und dass sie keinen dauerhaften Schaden dadurch bekäme.
´Vielleicht ist sie ja nur ausgerenkt… wenn ich wüsste wie es ging, würd ich sie selber wieder einrenken… aber vielleicht sollte ich lieber ins Krankenhaus gehen. Doch wie sollte ich ihnen das erklären?´
Ihr Blick glitt über die lange Narbe, die sich komplett über ihren linken Arm zog. Dann weiter zu den Schusswunden in ihrer Schulter und Hüfte. Die Wunden waren gut verheilt, dennoch waren große Narben zurück geblieben, die darauf schließen ließen, dass kein Mediziner sich ihr angenommen hatte, sondern nur jemand, der sich mit Wunden auskannte. In Mittelerde kümmerte man sich nicht um Narben, denn man konnte froh sein, überhaupt überlebt zu haben. Erneut wanderte ihr Blick über ihren nackten Körper und über all die kleinen, feinen Narben. Leise seufzend griff sie zu einem Handtuch, befeuchtete es mit Wasser und wusch sich ihren Körper, so gut wie es eben ging. Jedes Mal, wenn sie über ihre Narben wusch, drangen erneut Erinnerungen in ihr hoch, die sie immer weiter hinunter zogen in ihr Loch der Einsamkeit. Als sie es schließlich nicht mehr länger ertragen konnte, verließ sie das Bad, ging zu ihrem Schlafzimmer und kroch unter die Bettdecke, die voller Staub war, doch das kümmerte sie nicht. Ihr Kopf pochte und erneute Übelkeit, gepaart mit schrecklichen Kopfschmerzen, überrollte sie. Gweneth hatte keine Kraft mehr, um sich zusammenzureißen, sondern weinte, schrie und schlug wild um sich, bis die Schmerztabletten allmählich wirkten und sie schließlich erschöpft einschlief.
Die Schlacht um Minas Tirith. Orks, die brüllend und zähnefletschend ihr immer näher kamen. Sie drängten sie an eine Wand, bis sie mit dem Rücken daran stieß. Kälte überrollte sie. Grausame Schreie in der Ferne. Die Orks blieben mit einem Mal stehen, lachten sie aus, bis ein Ork aus ihnen hervorbrach und ihr etwas zuschmiss. Reflexartig fing sie es auf und obwohl sie wusste, dass sie nicht hinabsehen durfte, tat sie es trotzdem. In ihren blutigen Händen hielt sie Éomers abgeschlagenen Kopf. Gweneth schrie aus Leibeskräften, während die Orks lachten. Verzweiflung übermannte sie, während das Gelächter der Orks und ihr eigener Schrei in ihren Ohren hallten. Immer wieder schrie sie, warf sich um sich, bis sie auf einmal zu fallen schien und ein gellender Schmerz ihr fast den Atem raubte. Blitzschnell schlug sie ihre Augen auf und fand sich auf dem Boden ihres Zimmers wieder, eingewickelt in ihre Decke. Sie war auf ihren linken Arm gefallen und mit einem Stöhnen rollte sie sich von ihm herunter. Sie bedeckte ihre Augen mit ihrer rechten Hand, die noch leicht zitterte.
´Es war nur ein Traum… nur ein Traum´, versuchte sie sich zu beruhigen, doch es half nichts. Das Zittern wurde nur noch stärker und erneut traten ihr die Tränen in die Augen. Bilder ihres Alptraumes drangen erneut in ihr hoch und ließen sie bitterlich weinen, denn sie wusste nicht, ob er nicht real werden könnte. Sie würde nie erfahren, ob er nicht doch letzten Endes im Krieg fallen würde, wie es doch so viele taten. Ihr Körper bebte unter ihren Schluchzern und erst nachdem sie keine Tränen mehr fand, konnte sie sich allmählich wieder beruhigen. Starr sah sie an die Zimmerdecke, die dank der stetig steigenden Sonne immer heller zu werden schien. Ihr Magen meldete sich mit einem lauten Grummeln, doch verspürte sie keinen Drang, etwas zu essen, geschweige denn, zu trinken. Sie wusste nicht mal, wie es mit ihr nun weiter gehen sollte. Sie ließ ihre Hand, welche die ganze Zeit auf ihrer Stirn geruht hatte, sinken und stieß auf etwas Hartes. Verwundert griff sie danach und brachte den kleinen, glatten Gegenstand in ihr Sichtfeld. Es war ihr Ladegerät für ihr Handy. Lange sah sie es an und schwankte zwischen zwei Optionen hin und her. Schließlich entschied sie sich, ihren Eltern eine Nachricht zu schicken. Umständlich raffte sie sich auf, befreite sich aus der Decke und kroch zu ihrem Kleiderschrank und ihrer Kommode. Sie zog frische Unterwäsche an, sowie eine Jogginhose und ein Top, welches sie von unten her über die Hüfte anzog. Dann schnappte sie sich einen langen Schal und baute mit Hilfe von ihren Zehen und ihren Zähnen eine Schlinge für ihren Arm. Vorsichtig legte sie diese um und legte ihren Arm hinein. Sofort wurden die Schmerzen etwas schwächer und ließ sie leise seufzen. Dann stand sie langsam auf und wankte mit dem Ladegerät in ihrer Hand hinunter ins Wohnzimmer. Dort durchwühlte sie ihren Rucksack nach der kleinen, schwarzen Tasche und holte ihr Handy hervor. Sie steckte das Ladegerät in die Steckdose und schloss das Handy daran an. Vibrierend erwachte es zum Leben und nach der Pinneingabe erschien ihr blauer Willkommensbildschirm. Gespannt sah sie zu, wie ihr Handy Netz suchte und kaum besaß es fünf Balken, fing es an zu vibrieren.
´War ja klar… 265 verpasste Anrufe und 194 ungelesene Nachrichten.´
Sie seufzte schwer und löschte eine nach der anderen, ohne sie anzuhören oder zu lesen. Dann starrte sie auf das leuchtende Display und wusste nicht weiter.
´Soll ich sie anrufen? Was soll ich dann sagen? Hallo, tote Tochter am Apparat? Nee… oder ne SMS? Aber das ist auch ziemlich unpersönlich… besuchen kann ich sie nicht. Das würde ich mir in meinem Zustand nicht zutrauen.´
Sie schüttelte leicht den Kopf bei der Vorstellung, bereute es jedoch sofort, da ihr Kopf zu schmerzen begann.
´Ach, ich weiß, es ist schwach von mir… aber… ich denke, so ist es besser. Dann werden sie nämlich herkommen müssen. So weit wohnen sie ja nicht weg.´
Sie tippte, langsamer, als sie es eigentlich konnte, eine SMS an das Handy ihres Vaters mit dem Inhalt: Ich bin zu Hause.
Zögernd betrachtete sie die Nachricht, doch ehe sie es sich anders überlegte, drückte sie auf senden.