Zur Kurzgeschichte:
Eine kleine Idee, dir mir am Rande gekommen ist. Momentan habe ich kein Interesse daran, daraus ein Buch zu schreiben. Aber vielleicht mag das ja noch in der Zukunft kommen. Es ist ungefähr 17 Seiten lang und ist in Fantasy bzw. Romantik angesiedelt. Die Kurzgeschichte habe ich auch auf meinem Instagram Kanal gepostet. Allerdings nur in kleinen Schnipsel.
Ich bedanke mich bei meinem Betaleser, der Grammatik, Rechtschreibung und Satzbau korrigiert hat. Er möchte namentlich nicht genannt werden, freut sich aber, ein Teil des Projekts sein zu dürfen.
Klappentext:
Auf ihrer Studienfahrt träumt Leyla von einem Mann, der sich Ivar nennt und behauptet ein Vampir zu sein. Spielt ihr Geist ihr einen Streich oder ist er real?
Kurzgeschichte „Der Träumende Vampir“:
Mit einem zufriedenen Lächeln hievte Leyla ihren Koffer die steilen Flurstufen der Jugendherberge hinauf. Oben angekommen, öffnete sie die knarrende Tür und fand sich in einem winzigen Zimmer wieder. Beschwingt schloss sie die Tür.
Sie begann, die Kleidung aus ihrem Koffer auszuräumen und auf dem Boden zu verteilen. Sie schüttelte den Kopf.
„Viel zu viel Zeug für die wenigen Tage“, murmelte sie.
Seufzend sortierte sie einige Stücke aus, schmiss sie in ihren Koffer zurück und schob ihn unter ihr Bett.
Abgesehen von einem schmalen Kleiderschrank und dem hölzernen Bett, auf dem sie saß, war das Zimmer leer. Da sie aber sowieso nur hier schlafen würde und Leyla es mit niemanden teilen musste, war das für sie ausreichend.
Sie kippte das Dachfenster und angenehme kühle Frühlingsluft wehte herein. Für einen kurzen Moment genoss sie die Ruhe.
Leyla wappnete sich für die kommenden Tage. Sie waren enorm durchgeplant. Man ließ ihr und ihren Kommilitonen der Kunstakademie kaum Freizeit. Jeden Tag standen Museumsbesuche, diverse Stadtrundfahrten und Workshops an. Leyla mochte das zwar, aber nicht unter Zwang. Vor allem war sie dabei lieber alleine oder – besser gesagt – nicht mit den anderen Studierenden. Sie hatte schnell verstanden, dass deren Freundlichkeit nur eine Maske war. Sobald es um die eigene Kunst und begehrte Spots in den Ausstellungsräumen ging, war jeder auf sich gestellt. Da hatte sie lieber keine Freunde als falsche.
Etwas traurig darüber, schnappte Leyla ihren Zeichenblock samt Utensilien und begab sich nach unten.
Der Tag war ein Marathon gewesen. Im Liegen tastete sie nach ihrer Mappe und zog sie zu sich. Sie schlug sie auf und begutachtete die Zeichnungen. Die Studententruppe musste die historische Kirche im Zentrum des Altstadtkerns zeichnen. Inklusive Dinge, die ihnen daran besonders gut gefielen.
Leyla liebte altertümliche Bauwerke und speziell Kathedralen, die über Jahrhunderte entstanden. Man konnte an ihnen hervorragend die einzelnen Epochen ausmachen. Vor allem mochte sie die grotesken Wasserspeier. Sie waren auf Distanz schwer zu erkennen gewesen, aber zum Glück hatte der Professor ein kleines Fernglas dabei gehabt.
Leyla schob die Mappe beiseite, ehe sie sich hinlegte und erschöpft einschlief.
Sie saß auf einem grünen Hügel, unter einem blühenden Mandelbaum und blickte auf das rauschende Meer hinab. Der Horizont war weit und schien unendlich. Möwen schrien im Wind und Leyla ließ sich in das Gras sinken. Es fing sie auf, wie ein weiches Bett. Genüsslich schloss sie ihre Augen und lauschte den Stimmen der Natur.
„Darf ich mich zu Euch gesellen?“
Bei den Worten zuckte sie zusammen und sah zur Seite. Neben ihr stand ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern und welligem, braunen Haar, das ihm auf die Schultern fiel. Seine dunklen Augen waren wie schwarze Perlen, welche Leyla interessiert ansahen.
„Darf ich?“, fragte er erneut und deutete neben sie.
„Sicher“, entgegnete Leyla und rappelte sich auf, während er sich mit flüssigen Bewegungen setzte.
Sie musterte sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den leicht eingefallenen Wangen.
„Wieso seid Ihr alleine hier? Den traumhaften Ausblick sollte man zusammen genießen“, sprach er mit seiner rauen Stimme und sein Blick glitt über die Meeresbrandung.
„Ich bin gerne alleine“, entgegnete sie. „Woher kommst du?“
Leyla hatte seinen fremdartigen Akzent bemerkt. Er klang schön und passte zu ihm, aber sie konnte ihn nicht zuordnen.
Bei ihrer Frage lächelte er sanft. „Von weit her“, antwortete er mysteriös.
Er wollte wohl nicht darüber sprechen, also bohrte sie nicht nach. Sein dunkler Blick glitt vom Meer zu ihr. Seine Augen waren wie zwei endlose Tunnel, in die sie hinein fiel. Dunkelheit umschlang sie wie eine warme Decke und drückte sanft zu. Das Gefühl von Geborgenheit quoll ihr aus der Seele empor.
Er senkte seinen Blick und die Verbindung brach ab. Noch immer saß sie auf dem Hügel, aber ihr Herz hämmerte und sie spürte die Hitze in ihren Wangen. Was war das gewesen?
„Wie ist Euer Name?“, fragte er und riss sie aus ihren Gedanken.
„Wer will das wissen?“, fragte Leyla zögerlich.
Daraufhin lachte er und es war so ansteckend, dass sie unweigerlich lächeln musste. „Mein Name ist Ivar.“
Ein schrilles Klingeln ertönte. Leyla riss ihre Augen auf und stoppte hastig ihren Handy-Wecker. Noch halb schlaftrunken sah sie sich um. Sie lag in ihrem Bett in der Jugendherberge. War das nur ein Traum gewesen? Müde blinzelte sie und dachte an den Mann zurück. Es überraschte sie, dass sie sich an ihn erinnerte. Sie träumte nur selten und vergaß nach dem Aufwachen alles wieder. Wie war gleich sein Name gewesen? Irgendwas mit I. Leyla grübelte, kam aber nicht darauf. Verwirrt schwang sie ihre Beine aus dem Bett. Sie wischte den Traum beiseite und machte sich bereit für den Tag.
Leyla stampfte die Stufen zu ihrem Zimmer hoch, konnte aber noch das Grölen ihrer Kommilitonen hören. Der Tag war nicht so lang gewesen wie befürchtet und viele von ihnen hatten sich zusammengetan, um einen trinken zu gehen. Leyla hatte keine Lust, mit ihnen abzuhängen. Sie zog es vor, ihre Zeichnungen zu überarbeiten und ein Buch zu lesen.
Fröhlich summend setzte sie sich auf ihr Bett, steckte die Kopfhörer in ihre Ohren und ließ ihre Lieblingsmusik laufen, während ihr Zeichenstift über das Papier glitt. Lange saß sie so da, bis sie müde wurde und sich mit ihrem Liebesroman ins Bett verzog. Allerdings schaffte sie nur wenige Seiten, bis ihre Lider schwer wurden und sie einschlief.
Leyla holte zwei Milchschnitten und eine Limonade aus ihrem Rucksack. Obendrein eine Packung Schoko-Rollen. Betrübt sah sie auf ihr Mittagessen herunter. Zu gern hätte sie mal ein belegtes Brot dabei gehabt. Vielleicht mit einem Salatblatt darauf und ein paar Möhrenstreifen als Beilage. Dazu hatte ihre Mutter aber weder Zeit noch Lust. Ihr Vater, der nie da war, war da auch keine Hilfe.
Sie biss in die Milchschnitte und es dauerte nicht lange, bis sie Gekicher hörte. Ihr Herz sank in die Hose. Nicht schon wieder. Schnell packte sie ihr Essen zusammen und wollte das Klassenzimmer verlassen; es war jedoch zu spät. Ihr wurde die Schoko-Rolle entrissen.
„Guckt Mal, was Fetti wieder dabei hat!“ Das junge Mädchen hielt die Rolle nach oben und ihre Clique brach in Gelächter aus.
„Kein Wunder, dass sie von Tag zu Tag fetter und hässlicher wird!“
Die Mädels öffneten die Packung lachend und schmissen Leyla mit den einzelnen Keksen ab. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie hob schützend ihre Arme. Plötzlich rann Limonade über ihren Kopf. Leyla schrie auf.
Die Kinder, die sie quälten, wuchsen zu Jugendlichen und ihre grinsenden Gesichter verzerrten sich zu Grimassen. Die Kekse wurden zu Steinen und trafen sie hart am Körper. Leyla winselte und im nächsten Moment wurde sie sanft gepackt. Sie verlor den Kontakt zum Boden und lag in jemandes Armen. Sie sah in das Gesicht eines Mannes, der ihr vertraut vorkam.
„Ivar“, löste sich der Name von ihren Lippen.
Sein Blick zuckte überrascht zu ihr. „Ihr erinnert Euch?“
Leyla nickte und bemerkte, dass sie nicht mehr in ihrem Klassenzimmer war. Sie ging nun durch ihre ehemalige Schule. Oder – besser gesagt – wurde sie getragen. Ivar hatte sie in seinen Armen und trug sie scheinbar mühelos durch das leere Gebäude.
„Bin ich nicht schwer?“
„Nicht für mich.“
Sie blickte sich um.
„Wohin gehen wir?“
„Wohin wollt Ihr denn?“
Verwirrt sah Leyla ihn an.
„Es ist Euer Traum.“
„Ich träume?“
Ivar nickte und blieb vor einer Tür stehen. „Wohin wollt Ihr?“
Seine dunklen Augen sahen in die ihren und sie fühlte abermals die Geborgenheit in ihr aufkeimen. Seine Arme waren stark und zitterten nicht einmal unter ihrer Last. Sein Brustkorb war weit und stählern. Dennoch irgendwie weich und er lud ein, die Wange daran zu legen.
„Ans Meer.“
Er trat nach vorne und öffnete die Tür. Meeresluft schlug ihnen entgegen und Ivar schritt mit ihr hindurch. Vor ihnen befand sich eine Klippe und dahinter das weite Meer. Neben ihnen stand ein alter, knorriger Baum. Ivar setzte Leyla auf die morsche Bank darunter.
„Danke“, hauchte sie leicht verlegen.„Wie hast du mich denn gefunden?“
Er lächelte sanft und sie entdeckte die kleinen Grübchen in seinen Wangen.
„Wenn alle anderen träumenden Menschen ein Kerzenlicht in der Dunkelheit sind, dann seid Ihr eine Fackel.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Ich auch nicht.“
Sein Lächeln wurde breiter und er strich mit seiner großen Hand sein lockiges Haar aus dem Gesicht.
„Ich schlafe schon lange. So lange, dass ich aufgehört habe, die Nächte zu zählen. Der einzige Trost sind für mich die Träume der Menschen. Ich kann sie betreten. Für mich sind sie die einzigen Lichter in der Dunkelheit.“ Sein Blick glitt vom Meer zu Leyla. „Ihr müsst von weit her sein, denn Euer helles Licht sah ich noch nie.“
„Ich bin heute mit meinen Kommilitonen angereist. Wir machen eine kleine Studienfahrt. Mit dem Zug braucht man ein paar Stunden bis nach Hause“, bestätigte sie seine Vermutung. Dennoch war sie verwirrt. „Ich habe noch nie gehört, dass jemand den Traum eines Anderen betreten kann.“
„Menschen können es auch nicht.“
„Dann bist du kein Mensch?“, fragte sie und sein Lächeln wurde breiter.
„Nein, ich bin kein Mensch mehr. Ich bin ein Vampir.“
Ihr Kiefer klappte herunter. Ungläubig starrte sie ihn an. Erlaubte er sich einen Scherz mit ihr? „Es gibt keine Vampire.“
Ivar lachte laut und voll. „Soll ich es Euch beweisen? Ich könnte Euch beißen.“ Er grinste sie breit an und da sah sie, wie seine Eckzähne länger wurden. Leyla gefror in ihren Bewegungen und starrte auf seine Zähne.
„Ist das… dein Ernst?“, fragte sie nach und sie hörte selber, wie unsicher sie klang.
Abermals lachte er und seine Zähne wurden wieder menschlich.
„Es ist mein Ernst. Dann könnte ich Eure Träume beeinflussen und Euch Dinge zeigen, die Ihr vielleicht interessant fändet.“
Leyla starrte ihn an. War er wirklich ein Vampir und in ihren Traum eingetreten oder träumte sie das alles?
„Und ich werde dann nicht zu einem Vampir?“
„Nein, bisher ist keiner zum Vampir geworden. Selbst, wenn ich sie öfters beiße.“
„Und das tut nicht weh?“
Seine Augen funkelten amüsiert.
„Nur ganz kurz. Ich habe aber eher den Eindruck, als würden es die Menschen genießen.“
Ivar schmunzelte bei ihrem Blick und strich sich seine Haare aus seinem Gesicht, die aufgrund des Meereswindes immer zurückfielen.
Ein lautes Poltern ließ sie aufschrecken. Sie saß in ihrem Bett und hörte von unten ihre Kommilitonen, die besoffen zurückkamen. Ein paar grölten und andere schienen die Stufen hochzufallen.
Leyla konnte nur genervt mit ihren Augen rollen. Müde sah sie auf ihr Handy und stellte fest, dass es noch mitten in der Nacht war. Sie legte sich wieder hin und dachte an den Traum zurück. Es war das erste Mal, dass ihr in einem Traum bewusst geworden war, dass sie träumte. Und was hat es mit diesem Ivar auf sich? War er echt oder nur ein Hirngespinst? Sie war durchaus neugierig, auch wenn leichte Angst mitschwang. Wenn er wirklich real war, was sollte sie dann tun?
Schwer schnaufend drehte sie sich auf die Seite. Dieses Mal konnte sie sich genau an ihn erinnern und musste sich eingestehen, dass er unverschämt gut aussah. Normalerweise würde so jemand nie mit ihr ins Gespräch kommen. Bis sie die Courage gefunden hatte, einen gutaussehenden Mann anzusprechen, war meist eine selbstbewusste Frau dazwischen gekommen.
Leyla drehte sich auf die andere Seite und kaute auf ihren Lippen herum. Sie selber gewann zwar keine Schönheitswettbewerbe, doch alles war dort, wo es sein sollte. Eine Weile warf sie sich hin und her, ehe sie einschlief.
„Ihr seid zurück“, hörte Leyla Ivars tiefe Stimme.
Sie sah zur Seite und saß erneut auf der Bank unter dem Baum an der Klippe. Neben ihr saß der attraktive Vampir mit einem angedeuteten Lächeln auf seinen schmalen Lippen.
„Ich bin wieder hier“, murmelte Leyla. „Und erneut mit dir.“
„Das heißt, Ihr könnt Euch abermals an mich erinnern?“
Sie nickte und seine dunklen Augen begannen zu funkeln.
„Wieso bist du so überrascht?“
„Weil sich noch nie jemand an mich erinnert hat. Egal, wie oft ich in ihren Träumen war.“
„Keiner?“
„Nein, Ihr seid die Erste.“
Stumm sahen sie sich an, ehe Leyla den Blick abwenden musste. Er sah einfach zu gut aus.
„Also träume ich wieder?“
Ivar nickte und sie bemerkte, wie er sich ihr zugewandt hatte. Er hatte seinen Arm auf der Lehne abgelegt und die Beine übereinandergeschlagen. Sein langer, schwarzer Mantel hatte sich geöffnet und darunter trug er einen eng anliegenden, dunklen Pullover. Dieser spannte sich über seinen breiten Brustkorb und Leyla konnte erkennen, wie muskulös er war. Sie hatte den seltsamen Drang, sich an ihn zu schmiegen und fragte sich, ob er einen Herzschlag besaß.
„Ist alles in Ordnung?“, hörte sie ihn fragen und schnell wendete sie ihren Blick ab.
Ihre Wangen brannten.
„Ich habe mich nur gefragt, ob ich meinen Traum verändern kann, wenn ich wirklich träume?“
Ihr Blick glitt wieder zu seinem markanten Gesicht.
„Probiert es aus. Es ist schließlich Euer Traum.“
Leyla sah sich um und fragte sich, was sie probieren sollte. Vielleicht erst einmal etwas Ungefährliches. Sie sah zu dem Baum über sich auf und wünschte sich, dass er blühte. Es passierte nichts. Verunsichert sah sie zu Ivar.
„Ihr müsst es Euch bildlich vorstellen“, half er ihr und Leyla sah wieder hoch.
Mit aller Kraft stellte sie sich vor, wie der Baum zu blühen begann. Und dann geschah es. An den Ästen erblühten goldene Blüten, die sich in der Meeresbrise wiegten. Leyla lächelte und konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich ihren eigenen Traum verändert hatte.
„Dann ist es wahr“, ihr Blick glitt zu ihm und sie verstand, dass er nicht gelogen hatte. „Du bist also wirklich ein Vampir.“
Ivar nickte und in Leyla tobten die Gefühle. Auf der einen Seite war sie fasziniert von der Vorstellung, einem Vampir zu begegnen. Auf der anderen Seite war er gefährlich. Seltsamerweise verspürte sie keine Angst.
„Muss ich mich fürchten?“
Er brach in Gelächter aus und überrascht wartete sie, bis er sich beruhigte.
„Ihr seid zu interessant“, er grinste breit und strich sich die Haare nach hinten.„Wenn ich Böses von Euch wollte, dann hätte ich das schon längst getan.“
„Wolltest du mich nicht beißen?“
„Dazu hätte ich Eure Zustimmung nicht gebraucht. Wenn ich es wirklich gewollt hätte.“
„Das heißt, du beißt mich nur, wenn ich es will?“
„Das gebietet die Höflichkeit.“
„Was bringt es dir, mich zu beißen, wenn du kein echtes Blut aus mir bekommst?“
Für einen Moment sah Ivar sie nur stumm an und seine dunklen Augen glitzerten vor Amüsement.
„Ich kann dadurch Eure Träume verändern, so wie Ihr es gerade mit dem Baum gemacht habt.“
„Aber was bringt dir das?“
„Ich lebe einzig in den Träumen der Anderen. Es ist schön, mal etwas Bekanntes zu sehen.“ Er sah ihr Unverständnis und setzte fort, „stellt Euch vor, Ihr wäret jahrzehntelang nur auf Reisen. Würdet niemals nach Hause kehren oder Gegenden betreten, die Ihr Heimat nennen würdet. Würdet ihr Euch nicht auch nach etwas Vertrautem sehnen?“
Leyla sah ihn kritisch an, aber er schien nicht zu lügen.
„Das ist alles? Keine versteckten Gefahren für mich?“
Ivar schüttelte seinen Kopf.
„Werde ich auch nicht zu einem Vampir, wenn du mich beißt?“
„Das ist im Traum nicht möglich und selbst wenn ich Euch in der Realität beißen würde, würdet Ihr Euch nicht verwandeln. Dazu müsstet Ihr vorher mein Blut trinken.“
Leyla verzog ihren Mund bei der Vorstellung. Aber seine Worte beruhigten sie. Sie sah hoch zu den großen goldenen Blüten, welche sich sanft im Winde wiegten, und war versucht, sein Angebot anzunehmen. So etwas erlebte man nicht alle Tage. Ihr Herz klopfte vor Aufregung, als sie sich endlich entschied.
„Du darfst mich beißen“, sprach sie es aus und rutschte nervös auf der Bank hin und her.
„Sei Ihr Euch sicher?“
Leyla sah auf und bemerkte, wie er näher gerutscht war. Seine schmalen Lippen waren zu einem attraktiven Lächeln gezogen und seine dunklen Augen sprühten Funken wie Kohlen in der Dunkelheit.
„Ja, ich meine… so etwas ist mir noch nie passiert und vielleicht würde ich es bereuen, es nicht ausprobiert zu haben.“
Nervös zupfte sie an ihrer Hose herum. „Und wie geht das jetzt vonstatten?“, fragte sie verlegen und wagte es beinahe nicht, ihn anzusehen. „Gebe ich dir meine Hand oder wohin beißt du mich?“
„In den Hals. Dort fällt es mir am leichtesten, Euch zu beißen.“
Leyla nickte bei seiner Erklärung und war froh, dass er sie nicht auslachte.
„Muss ich was tun?“, fragte sie weiter.
Er schüttelte seinen Kopf. Im nächsten Moment war er direkt vor ihr. Sein Gesicht füllte ihr Blickfeld komplett aus. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Langsam hob er seine große Hand und strich sanft ihre langen Haare aus ihrer Halsbeuge. Ihre Haut brannte unter seinen Fingerspitzen. Dann beugte er sich immer mehr nach vorne und sein Atmen strömte heiß über ihren Hals. Eine angenehme Gänsehaut kroch ihr über die Arme.
Ein stechender Schmerz ließ sie zusammen zucken. Doch so schnell er gekommen war, so schnell verschwand er wieder. Gefolgt von einem Hochgefühl, das sie noch nie verspürt hatte. Jede Zelle ihres Körpers schien zu vibrieren. Wellenartige Wonne strömte durch sie hindurch und sie verzehrte sich nach mehr.
Ihre Hände fuhren in seine Haare und ein wohliges Seufzen entfleuchte ihren Lippen. Sie zog ihn an sich und seine Arme schlangen sich um Leyla. Ihr Körper bäumte sich ihm entgegen und dürstete nach seinen Berührungen. Er zog sie näher zu sich heran. Doch es war ihr nicht genug. Mehr. Mehr!
Er schrilles Klingeln riss sie aus ihrem Traum. Desorientiert blickte sich Leyla um und realisierte mit jedem Ton mehr, dass sie wach war. Schnell stoppte sie den Wecker und starrte an die dunkle Decke. Ihr Puls raste und ihre Wangen brannten. Sie fasste sich an die Stelle ihres Halses, an der er sie gebissen hatte. Aber da war nichts. Abermals fuhr sie darüber, ohne etwas zu entdecken.
Seufzend rieb sie sich die Augen und dachte an die letzten Momente ihres Traumes zurück. So etwas hatte sie noch nie verspürt! Solch eine Wonne! Verlegen rollte sie sich im Bett hin und her. Wie peinlich! Leyla raufte sich die Haare und blieb schließlich auf dem Bauch liegen. Zu gerne wäre sie wieder eingeschlafen und hätte weiter geträumt. Am besten genau da, wo der Traum aufgehört hatte.
Ihre Wangen glühten. Hitze stieg in ihr auf und ungläubig schüttelte sie ihren Kopf. Seit wann war sie so eine Frau? Sie richtete sich auf und starrte in die Dunkelheit. Ivar war zweifelsohne verlockend und dazu noch ein Vampir.
Langsam ließ sie sich gegen die Wand sinken und fragte sich, ob Ivar nun jemand anderen besuchte? Die Welle an Eifersucht überraschte sie. Was war nur los mit ihr? Sie hörte von unten die ersten Menschen, die ins Bad stolperten. Es brachte nichts, sie musste aufstehen. Genervt quälte Leyla sich aus ihrem Bett und machte sich fertig. Sie packte alles Notwendige und ging hinunter.
Leyla bildete das Ende ihrer Gruppe, welche über den alten Friedhof stapfte, um das Grab eines berühmten Malers zu besuchen. Sie hörte dem Gruppenleiter nur halbherzig zu, da ihre Gedanken abermals bei Ivar waren.
„… Vergitter, weil man Angst vor dessen Auferstehung hatte.“
Leyla horchte auf. Ihre Gruppe war vor einer Ansammlung uralter Grabsteine stehengeblieben. Über das gesamte Grab spannte sich ein Gitter aus mächtigen Eisenstäben, die tief in der Erde verschwanden. Es war nicht die einzige Gedenkstätte, die so aussah.
„Wie ein Zombie?“, fragte ein Kommilitone.
„Nein, eher wie ein Vampir“, erklärte der Gruppenleiter.
Leyla trat interessiert näher.
„Auf den alten Friedhöfen findet man immer wieder Maßnahmen gegen die Auferstehung der Toten. Manchen wurde der Kopf abgetrennt und andere auf den Bauch liegend begraben. Sie wurden in den Sarg genagelt, mit Steinen beschwert oder gepfählt. Oder, wie in diesem Fall, das Grab vergittert. Manche Gruften wurden sogar versiegelt.“ Der Gruppenleiter führte eine ausschweifende Geste über den Friedhof aus.
Leyla hob den Blick und erblickte die steinernen Gruften. Sie waren regelrecht mit dicken Eisenketten eingewickelt worden. An den Ketten hingen unzählige Kreuze in unterschiedlichen Größen.
„Wenn ihr mir nun folgen würdet“, rief der Leiter und stapfte weiter.
Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und Leyla musste an Ivar denken. Wo er wohl schlief?
Kaum hatte sie fertig gegessen, sprintete sie in ihr Zimmer. Den ganzen Tag über hatte sie darauf gewartet. Doch so sehr Leyla versuchte, einzuschlafen, es ging nicht. Ewig warf sie sich hin und her und gab es letztendlich auf. Sie kramte ihr Buch hervor und begann zu lesen. Die Zeit flog nur so dahin.
Da vibrierte ihr Handy. Neugierig las sie die Nachricht und notierte sich dann die Arbeitszeiten für den nächsten Monat. Sie hatte um mehr Arbeit gebeten, da sie neue Leinwände brauchte und diese unglaublich teuer waren. Dennoch schauderte sie über die Mehrbelastung. Der nächste Monat würde hart werden. Leyla schüttelte ihren Kopf, legte das Buch beiseite und glitt endlich in den ersehnten Schlaf.
Laute Musik dröhnte in ihren Ohren und sie tanzte rhythmisch zu dem elektronischen Beat. Die Tanzfläche war voll, so wie immer an einem Samstag im Club Ecstasy. Freudig ließ sie ihren Körper zum Takt biegen, als sie mit einem Mal eine mächtige Präsenz spürte.
Sie wirbelte herum und erblickte Ivar. Er stand statuengleich unbewegt in der Menge und sah sich kritisch um. Leylas Herz schlug ihr im Hals. Ihre Blicke kreuzten sich und er lächelte sie breit an. Ein angenehmer Schauer rann durch ihren Körper, als er sich durch die tanzende Menge schob und schließlich vor ihr stehenblieb.
„Wo sind wir?“ Er versuchte mit seiner Stimme gegen die Musik anzukämpfen.
„Bei meinem Nebenjob. Normalerweise arbeite ich hier hinter der Bar.“ Sie zeigte durch die Menge.
Dort schmiegte sich eine weiße, beleuchtete Bar der ganzen Länge nach an die Wand. Der Name des Clubs stand in großen Buchstaben darüber. Eifrig arbeiteten ihre Kollegen im Ausschank. Als sie Leyla erblickten, winkten sie ihr fröhlich zu.
„Ich habe wohl gerade frei“, meinte sie und wiegte ihr Körper zur harten Musik. „Tanz doch mit“, forderte sie Ivar auf. Doch dieser verzog den Mund.
„Das nennt Ihr Tanzen?“
Eifrig nickte sie ihm zu.
„Soll ich Euch zeigen, was Tanzen heißt?“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Einen Moment zögerte sie, dann ergriff Leyla sie. Ihre Hand passte perfekt in seine. Ivar führte sie zielstrebig durch den Club, bis sie zur Eingangstür kamen. Zusammen gingen sie hindurch und standen auf einmal in einem leeren Ballsaal. Leyla staunte und ihr Blick glitt über den pompösen Stuck, der in Gold eingefasst war. Von der bemalten, kuppelförmigen Decke hingen schwere Kronleuchter.
„Wow, das ist beeindruckend“, sagte sie und bewunderte die filigranen Malereien an den Wänden. „Wo sind wir hier?“
„An einem Ort, der vom Krieg zerstört wurde. Er existiert nur noch in meiner Erinnerung.“
Auf einmal ertönte leise Musik, die stetig lauter wurde. Leyla kam der Takt bekannt vor.
„Ein Walzer?“, fragte sie Ivar belustigt.
Da fiel ihr auf, dass er ganz andere Kleidung trug. Jene, die gut in den Raum passte.
„Wollt Ihr mit mir tanzen?“ Abermals streckte er ihr seine Hand entgegen.
„Aber“, stammelte Leyla und sah zu ihrem knappen Outfit hinunter, „ich bin dafür nicht passend gekleidet und ich kann gar nicht tanzen. Nicht so zumindest.“
„Macht Euch darüber keine Sorgen. Wenn jemand richtig führen kann, dann muss der Andere nicht tanzen können. Und Ihr seid bereits angemessen gekleidet.“
Leyla sah verwirrt an sich herunter. Sie trug ein ausladendes Ballkleid, mit tiefem Dekolleté und kostbaren Verzierungen. Sie bewegte ihre Hüfte und die Schichten am Stoff raschelten dezent. Unweigerlich wünschte sie sich einen Spiegel herbei, der auf einmal direkt neben ihr stand. Sie bewunderte das Kunstwerk und war fasziniert von ihren Haaren, die passend hochgesteckt waren. Weiße Perlenschnüre waren eingeflochten und Leyla kam aus dem Lächeln kaum heraus.
„Wenn ich bitten dürfte?“
Ivar stand neben ihr und forderte sie zum Tanz auf. Dieses Mal zögerte sie nicht und akzeptierte. Er zog sie an sich, positionierte ihre Hände dort, wo sie sein sollten.
„Vertraut mir“, raunte er und sah ihr einen Moment tief in die Augen.
Leylas Herz flatterte in ihrer Brust.
Schließlich setzte er sich in Bewegung. Zuerst hatte sie Probleme, sich führen zu lassen. Doch dann gab sie sich ihm ganz hin. Geschickt und bestimmend führte Ivar sie über die Tanzfläche und wirbelte sie herum, dass ihre Unterröcke sich bauschten. Leyla genoss es und lachte, wenn er sie abermals drehte. So viel Spaß hatte sie schon lang nicht mehr gehabt. Sie tanzten und tanzten, aber weder kam sie außer Atem, noch schmerzten ihr die Füße. Leyla genoss es in vollen Zügen und Ivar lächelte unentwegt. Beide konnten die Augen nicht voneinander nehmen.
Der Abstand zwischen ihnen wurde immer kleiner, bis ihre Nasenspitze beinahe sein Kinn berührte. Seine dunklen Augen lagen auf ihr und sie verlor sich darin. Wurde abermals komplett eingehüllt in seiner Decke der Dunkelheit. Wärme umfing sie und sie legte ihre Hand auf seine Brust. Nur noch etwas näher!
Ein Klingeln riss sie aus ihrem Traum. Beinahe hätte sie ihr Handy gegen die Wand geschmissen. Frustriert sah sie auf das Gerät und musste über sich schmunzeln. Irgendetwas an Ivar war anders, weshalb sie sich so untypisch verhielt. Und es lag nicht daran, dass er ein Vampir war. Leyla raufte sich die Haare und fügte sich ihrem Schicksal. Missmutig stand sie auf und bereitete sich für den Tag vor.
Müde schleppte sie sich die Stufen hoch und föhnte oben angekommen ihre nassen Haare. Die heiße Dusche hatte gut getan. Die Studententruppe war wegen einer Stadtrallye den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Das war Leyla gerade recht gekommen. Je mehr sie sich tagsüber verausgabte, desto eher konnte sie einschlafen und Ivar wiedersehen.
Sie kämmte sich und seufzte. Den ganzen Tag über hatte sie an ihn denken müssen und jedes Mal flatterte ihr Herz. Sie nippte an ihrem Starkbier und hoffte, dass der Alkohol ihre unruhigen Gedanken besänftigen würde. Schnell schnappte sie ihr Buch und begann zu lesen. Das Bier tat seine Wirkung und irgendwann schlief sie ein.
Farbe spritzte Leyla ins Gesicht, als sie den vollen Eimer gegen die Leinwand warf. Blaue Masse lief an der mannshohen, weißen Fläche herunter. Layla füllte einen kleinen Becher mit hellblauer Farbe und klatschte ihn ebenso dagegen. Dann schnappte sie sich mehrere Pinsel unterschiedlicher Größe und vermischte die Kleckse an den richtigen Stellen zu einem Bild.
„Ihr seid Künstlerin?“, hörte sie seine tiefe Stimme hinter sich.
Freudig lächelnd drehte sie sich zu ihm um. Er trug wieder den langen Mantel mit dem eng anliegenden Pullover darunter. Ivar musterte ihr unvollendetes Werk.
„Ja. Ich studiere es“, erklärte sie. „Und ich hoffe, dass ich eines Tages davon leben kann.“
Zufrieden begutachtete sie ihre Kreation. „Wenn das alles nicht so teuer wäre, fiele es mir bestimmt leichter.“
„Das ist Euer Atelier?“
Sie bejahte. „Und oben drüber wohne ich. Es ist zwar alles etwas eng und klein, aber es reicht.“
Ivar schritt durch den Raum, der vollgestellt war mit Leinwänden diverser Größen und Unmengen an Farben und Malutensilien. Stumm begutachtete er ihre fertigen Bilder und Leyla trat zu ihm.
„Du bist gut“, raunte er.
Sie wurde verlegen. „Danke“, hauchte sie, “aber das reicht leider nicht.“
Ivar sah sie fragend an.
„Ich habe kein Netzwerk. Deswegen bekomme ich so gut wie keine Ausstellungsplätze und verkaufe noch weniger. Um das schnell zu ändern, müsste ich mich bei den richtigen Leuten einschleimen.“ Sie verzog ihr Gesicht. „Wenn ich charismatischer oder beliebter wäre, wäre das alles kein Problem. Wenn ich den Job im Ecstasy nicht hätte, könnte ich mir das alles nicht leisten.“
Er nickte. „Ein Leben ohne Geld ist immer voller Entbehrungen.“ In dem Moment sah er ein wenig traurig aus.
„Wie sah dein Leben aus?“
„An die Zeit vor meinem Vampirdasein kann ich mich kaum erinnern. Aber soll ich Euch das Leben zeigen, als ich noch wach war?“
Neugierig nickte sie und er bedeutete ihr, zu folgen.
Sie gingen an der Wendeltreppe zu Leylas Maisonett-Wohnung vorbei und durchschritten die Haustüre. Sie beide standen auf einer belebten Straße und alle Menschen waren vornehm angezogen. Keine Autos fuhren und Pferdekutschen schoben sich durch die Menge. Leyla schätzte, dass es Ende des 19. oder 20. Jahrhunderts sein musste. Bisher hatte sie nur Zeichnungen und alte Bilder aus der Zeit gesehen. Es mit eigenen Augen zu erleben, war beeindruckend.
„Hier hast du zuletzt gelebt?“
Zusammen schlenderten sie über die gepflasterten Straßen. Leyla konnte sich kaum sattsehen.
„Es ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Alles Weitere habe ich durch die Träume der Menschen erfahren.“
Ihr Blick glitt zu ihm und ein Hauch von Traurigkeit lag in seinen Zügen.
„Was ist passiert?“, fragte sie verhalten und Ivar verzog leicht sein Gesicht.
„Es ist okay, wenn du es nicht erzählen willst“, meinte sie, doch Ivar winkte ab.
„Die Kirche hat einen Orden, der darauf spezialisiert ist, Vampire zu finden und zu töten. Wir sind zwar vorsichtig, aber es gibt auch schwarze Schafe unter uns. So hat mich ein Freund verraten und an den Orden ausgeliefert. Ich konnte mich wehren, doch schafften sie es, mich einzusperren.“
Er sah sie kurz an.
„Ich bin noch immer eingesperrt.“
„Wird man da nicht wahnsinnig?“
Ivar lachte und abermals sah sie seine bezaubernden Grübchen.
„Manch einer schon, aber wenigstens konnte ich in die Träume anderer eindringen und dort in gewisser Weise leben.“
Leyla nickte und musste an den Friedhof denken.
„Bist du in einem der Gräber, die vergittert sind?“
Ivar wandte sich ihr zu und musterte sie.
„Ihr wart auf dem alten Friedhof?“
„Meine Klasse und ich sind darüber gelaufen. Ich musste an dich denken, als ich die Gitter sah.“
Seine Hand lag auf einmal auf ihrer Schulter.
„Ihr habt Euch an mich erinnert? Selbst, als Ihr wach wart?“
Leyla nickte und sie spürte, dass er ihre Schulter fest drückte.
„Wann werdet Ihr gehen?“
„Übermorgen.“
Panik zuckte durch sein Gesicht. Plötzlich trat er näher und zog sie in eine feste Umarmung. Wie ein Ertrinkender an seinen Retter.
„Helft mir!“
Leyla saß kerzengerade in ihrem Bett und registrierte nur langsam, dass wieder ihr Wecker klingelte. Ihr Herz raste. Schnell stoppte sie das nervige Klingeln und starrte in die Dunkelheit. Beinahe konnte sie noch seinen warmen Körper an dem ihren spüren. Ihre Wangen brannten und Hitzewellen jagten durch sie hindurch. Ihre Gedanken wanderten zum Friedhof. Er war also wirklich dort? Schon allein die Vorstellung, ihn real zu erleben, ließ ihren Puls nach oben schnellen. Kopfschüttelnd schwang sie ihre Beine aus dem Bett und machte sich fertig.
Er ging ihr nicht aus dem Kopf. Schon den ganzen Tag nicht. Egal welche altertümlichen Stätten sie besuchten, Leyla musste an ihn denken und ob er bereits hier gewesen war. Sie stellte sich vor, wie er in der Dämmerung neben ihr stand und ihr von all den historischen Ereignissen erzählen konnte, die er selbst erlebt hatte. Ihre Gedanken wanderten zu dem Moment hin, als er sie gebissen hatte. Hitze rann abermals durch ihren Körper. Ob es sich in echt genauso anfühlte? Immer wieder zuckte ihr Blick zur Uhr. Es war erst Mittag. Unruhig folgte sie den anderen durch die Stadt. Als sie ihre Mittagspause hatten, eilte Leyla zum alten Friedhof. Dort angekommen ging sie zügig zu den vergitterten Gräbern und blieb stehen. Sie war allein.
„Ivar?“, flüsterte sie und lauschte in die Stille hinein.
Nichts.
Langsam schlich sie an den Gräbern vorbei, hin zu den eingeketteten Gruften. Es waren nur eine Handvoll und vor jeder kam sie zum Stehen, um seinen Namen zu flüstern.
Aber es blieb still. Niemand antwortete.
Irgendwann kam sich Leyla blöd vor und fragte sich, was sie da eigentlich tat. Wer sagte, dass er hier war? Und selbst wenn, würde er ihr antworten?
Sie schüttelte den Kopf und verließ den Friedhof.
Betrübt schloss sie sich wieder ihrer Gruppe an und latschte missmutig hinter ihnen her. Die Stadtführung ging bis in den Abend hinein und ihr Blick glitt immer wieder zur Uhr. Es war spät, als sie endlich fertig waren und sie abermals in ihrem Zimmer war. Aufgeregt legte sie sich schlafen und wälzte sich ungeduldig hin und her. Sie brauchte noch eine Weile, ehe sie in den ersehnten Schlaf sank.
Erneut saß sie auf der morschen Bank unter dem Baum und Ivar befand sich direkt neben ihr. Er hatte sich ihr zugewandt und sein angewinkelter Arm lag auf der Rücklehne. Mit seinen langen, schlanken Fingern strich er sich seine lockigen Haare aus dem Gesicht und sein Blick ruhte auf ihr.
„Habt Ihr nach mir gerufen?“, fragte er sichtlich erfreut.
„Du hast mich gehört?“
Er nickte und sie musste erleichtert lachen.
„Und ich dachte, dass es eine blöde Idee gewesen war.“
„Nein, keineswegs. Beim dritten Rufen wart Ihr mir am nächsten.“
„Beim Dritten?“
Leyla überlegte, wo sie da gestanden hatte, konnte sich aber nicht erinnern. Ivar muss das von ihrem Gesicht abgelesen haben, denn er wurde unruhig.
„Lass mich kurz überlegen“, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch seine Finger zuckten rastlos.
„Wenn Ihr Euch den Friedhof vorstellt, so fällt es Euch womöglich leichter.“
Sie nickte und stellte sich vor, wieder auf dem Friedhof zu sein. Beherzt stand sie auf und drehte sich auf der Stelle um. Die Szenerie änderte sich mit dem nächsten Wimpernschlag. Sie stand vor den vergitterten Gräbern und er direkt neben ihr.
„Hier habe ich das erste Mal nach dir gerufen“, erzählte sie und ging dann zu den Grüften.
Ivar folgte ihr stumm.
„Ich bin von rechts nach links gegangen und habe vor jedem innegehalten. Also müsstest du hier sein.“
Sie blieb vor einer Gruft stehen, die aus schwarzem Stein bestand und mehrmals mit dicken Eisenketten umschlungen war. Unzählige Kreuze in unterschiedlichen Größen hingen daran. Neugierig sah sie zu Ivar, der die Ruhestätte musterte. Ein bitterer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er streckte seine Hand aus und berührte zaghaft die schweren Kreuze mit seinen Fingerspitzen.
„Hier liege ich also“, murmelte er und umgriff dann eine der Eisenketten.
Mit einem kräftigen Ruck riss er sie zu Boden. Geräuschvoll rasselten auch die Anderen von der Gruft. Sein Blick glitt zu Leyla.
„Diese Ketten halten mich gefangen. Wenn Ihr sie entfernt, bin ich frei.“ Sein Blick war voller Intensität.
Eine angenehme Gänsehaut kroch ihr über die Arme und den Rücken hinunter. Etwas flatterte in ihrem Bauch und allein schon die Vorstellung, in echt vor ihm zu stehen, ließ ihr Herz höher schlagen. Aber sie zögerte. Selbst wenn sie den Mut hätte, so etwas Altes kaputtzumachen – sollte sie wirklich einen Vampir auf die Welt loslassen?
„Wenn du mich freilässt, schwöre ich, keinen Menschen zu töten“, sprach er eindringlich und riss sie aus ihren Gedanken.
Er hatte ihr Zögern richtig gedeutet. Mit einem Schritt war er direkt vor ihr. Leyla sah in seine Augen, die zu brennen schien. „Ich werde niemanden töten und ich werde Euch finden.“
Ihre Augen wurden groß und ihr Herz wollte aus ihrer Brust springen.
„Warum?“, hauchte sie und Ivar lächelte warm.
Er strich behutsam eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht hinter ihr Ohr. „Ich glaube nicht, dass Ihr versteht, wie besonders Ihr für mich seid.“
Sein Blick wurde noch intensiver.
„Und wenn ich die ganze Welt auf den Kopf stellen muss, so werde ich Euch finden.“
Seine große Hand ruhte auf ihrer Schulter und sie spürte das Gewicht darauf. Seine Augen waren so dunkel wie die Nacht. Abermals fühlte sie sich unbeschreiblich geborgen. Als wäre sie nach Hause gekommen. Wie in Trance legte sie ihre Hand auf seine breite Brust.
„Macht Euch fertig!“
Leyla schreckte aus ihrem Schlaf hoch. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass der Professor sie alle geweckt hatte. Es waren nur noch wenige Stunden bis zur Abfahrt. Sie zog ihre Füße heran und vergrub ihr Gesicht zwischen den Knien.
Was sollte sie nur tun? An seine Worte glauben oder gehen und alles hinter sich lassen? Leyla wusste es nicht. Frustriert packte sie, wusch sich und aß still ihr Frühstück mit den Anderen. Sie hatten nur noch wenig Zeit bis zur Abfahrt und je mehr die Zeit davonschritt, desto rastloser wurde sie. Schließlich fasste sie sich ans Herz und entschied sich.
Sie klärte alles mit dem Professor ab und rannte, so schnell sie konnte zum nächsten Baumarkt. Anschließend fuhr sie auf den alten Friedhof. Zielstrebig ging sie an den Gräbern vorbei und blieb erst vor der Gruft aus schwarzem Stein stehen. Verstohlen sah sie sich um, aber niemand war weit und breit zu sehen. Ihr Blick glitt zur Uhr. Sie hatte keine Zeit mehr. Leyla schmiss alle Zweifel über Bord und trat zu den Eisenketten.
„Ich hoffe, du hältst dein Wort“, sagte sie und hob den Bolzenschneider.
Mit jedem Schnitt fielen immer mehr Ketten zu Boden, bis die Gruft frei war. Beinahe anklagend schimmerten die Kreuze im fahlen Morgenlicht. Leyla warf den Bolzenschneider zur Seite und wandte sich ab. Sie hoffte inständig, nicht den Teufel befreit zu haben. Zügig ging sie zum Bahnhof und schloss sich den Anderen wieder an. Mit einem flauen Gefühl im Magen entfernte sie sich immer mehr von der Stadt und auch von ihm.
Es geschah nichts.
Nach zwei Wochen hörte sie auf, die lokalen Nachrichten zu lesen. Es gab keine seltsamen Überfälle oder Tote, die auf Ivar hindeuten konnten. Vielleicht war alles wirklich nur ein Traum gewesen. Oder sie hatte die falschen Ketten aufgeschnitten. Enttäuscht schleppte sie sich in der Abenddämmerung zur Arbeit im Club Ecstasy.
Leyla nahm sich vor, in den Semesterferien noch einmal hinzufahren und dort zwei Nächte zu verbringen. Womöglich würde sie abermals von ihm träumen. Es war ihr schon unangenehm, wie sehr sie ihn vermisste.
Doch dann kamen die ersten Partygänger und die stressige Arbeit hinter der Bar lenkte sie ab.
Nach mehreren Stunden des Ausschenkens hatte sie eine Pause und tanzte zu den rhythmischen Beats auf der Tanzfläche. Genüsslich schloss sie ihre Augen und wog sich hin und her, bis sie ein Prickeln in ihrem Nacken verspürte.
Irritiert drehte sie sich um. Da sah sie ihn. Der Vampir aus ihren Träumen. Ivar. Er schlenderte die Treppen hinunter und sein dunkler Blick war an sie geheftet. Ihr Herz raste. Wie in Zeitlupe schob er sich durch die tanzende Menge, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Dann stand er vor ihr. Er sah genauso aus wie in Leylas Träumen. In dem grellen Licht der Disco wirkten seine Züge noch schärfer.
„Ich habe Euch gefunden“, las sie von seinen schmalen Lippen ab und das Lächeln, das er ihr daraufhin schenkte, ließ ihre Knie weich werden.
Langsam hob sie ihre Hand und legte sie auf seine glatten Wangen. Seine Haut war unerwartet warm.
„Du bist es wirklich“, hauchte sie und Ivars Lächeln wurde breiter.
Er schien sie durch die laute Musik hindurch zu verstehen.
„Komm mit“, sagte sie zu ihm und schlängelte sich durch die tanzende Menge zur Bar. Dort bog sie seitlich ab.
Ivar folgte ihr auf Schritt und Tritt. Leyla öffnete eine Tür, die für das Personal gedacht war. Schnellen Schrittes lief sie die metallenen Stufen nach oben. Die Treppe endete vor einer schweren Eisentüre, die sie beherzt aufstemmte.
Sie fand sich auf einem schmalen Balkon wieder, der verborgen über der Straße hing. Normalerweise wurde der Ort von den Rauchern genutzt, aber momentan war niemand da. Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel und mit hämmernden Herzen drehte sie sich um.
Ivar stand vor ihr und seine Augen waren in der Dunkelheit wie schwarze Löcher. Sie zogen sie vollkommen in ihren Bann. Langsam ging er auf sie zu und sie sah nur ihn. Die Geräusche rückten in den Hintergrund und alleine seine Schritte waren auf dem metallenen Gitter auszumachen.
„Wieso sind wir hier?“, fragte er und kam vor ihr zu stehen. Er hatte noch immer die tiefe Stimme mit dem fremdartigen Akzent darin.
„Damit ich dich besser hören kann“, antwortete Leyla außer Atem.
Da realisierte sie erst, dass sie die Luft angehalten hatte. Langsam hob er seine Hand und strich eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr. Seine Berührung ließ sie angenehm erschaudern.
„Ich dachte schon, ich hätte die falschen Ketten zerschnitten“, gestand sie.
Ivar lächelte warm und ihr Herz machte einen Sprung. Sein Lächeln vertiefte sich. Abermals sah sie seine Grübchen in den Wangen,
„Das habt Ihr nicht. Aber es hat gedauert, Euch ausfindig zu machen. Immerhin hatte ich nicht viele Hinweise.“
„Oh“, entfleuchte es ihr.
Er hatte Recht. Sie hatte ihm nie gesagt, woher sie kam. Die einzigen Informationen waren die Kunstakademie und ihre Arbeit.
„Wieso hast du die Mühe auf dich genommen? Wäre, es nicht leichter gewesen zu verschwinden?“, fragte sie verlegen.
Er lehnte sich ein Stück nach vorne.
„Das wäre es“, raunte er. Sie spürte seinen heißen Atem in ihrem Gesicht. „Versteht Ihr wirklich nicht, weshalb ich mir die Mühe machte, Euch zu finden?“
Leyla schüttelte ruckartig den Kopf. Ivar grinste und lehnte sich weiter nach vorne. Seine Lippen lagen auf ihren. Hitze rannte durch ihre Adern und mit jeder Bewegung seiner weichen Lippen brannten sie sich tiefer in sie hinein. Entfachten ein unbekanntes Feuer, das verlangend nach mehr schrie. Unweigerlich krallte sie sich an ihn und zog ihn zu sich. Starke Arme schlangen sich um ihren Körper. Pressten sie an ihn und Leyla schien glücklich darin zu ertrinken. Gierig vergrub sie ihre Hände in seinen Haaren und die Küsse wurden immer verbotener. Wanderten an ihrem Hals hinunter, bis sie das ersehnte Stechen spürte. Leise stöhnend gab sich der Wonne hin, die seine Zähne ihr schenkten. Sie würden ihn nicht mehr loslassen. Nie wieder.
Ende.